Anfang September diskutierte der Tübinger OB Boris Palmer mit dem baden-württembergischen AfD-Vorsitzenden Markus Frohnmaier. Bzw. er wollte es. Die Debatte startete mit fast einer Stunde Verspätung und musste mehrfach unterbrochen werden. Letzten Endes gab Frohmaier nur Harmlosigkeiten von sich. Weder wiederholte er noch verteidigte er die verfassungsrechtlich bedenklichen Aussagen, wie sie zuhauf von der AfD kamen und kommen. Gerade vor diesem Hintergrund fand ich es fatal, dass ein Teil der Zuschauenden im Saal lange und mehrfach durch Geschrei versuchte, die Diskussion zu verhindern. Damit haben sie meiner Meinung nach „der Demokratie“ einen Bärendienst erwiesen. (Photo Credits: Gemini)

Gedanke 1: Meinungsfreiheit

Der tiefere Sinn von Meinungsfreiheit war nie, dass jemand unkommentiert Stuss von sich geben oder Lügen verbreiten darf. Meinungsfreiheit bedeutet, dass das Geäußerte (auch unmittelbar) kritisiert werden kann. Denn auch Kritik ist Meinungsfreiheit. Das ist übrigens die Keimzelle des rationalen Diskurses. Und klar können auch Buh-Rufe Teil dieser Kritik sein. Und auch die „Abstimmung mit Füßen“ gehört zur Meinungsfreiheit. Niemand muss sich etwas anhören, was er/sie unterträglich findet. Dieses Markt-Element steckt vor allem im zweiten Teil des Begriffs Meinungsfreiheit. Wie es funktioniert, ließ oder lässt sich traditionell im Londoner Hyde Park in der Speaker’s Corner anschauen.

Hyde Park, Speakers‘ Corner (Photo Credits: Wikimedia, Creative Commons CC BY-SA 2.0)

Wenn man aber laut wird, bevor eine Debatte erst stattgefunden hat, geht es ja darum, die Debatte oder einzelne Wortmeldungen zu unterbinden. Das ist meines Erachtens keine Meinungsfreiheit (mehr), sondern eine Machtdemonstration durch Gewalt. Und die muss auch mit Gegengewalt rechnen (indem zum Beispiel Polizisten Randaleure hinaustragen).

Apropos Gewalt …

Gedanke 2: Gewalt und Politik

Da ich mich ein bisschen mit Revolutionsforschung auskenne, kann ich sagen, dass Gewalt und Politik oft zusammen auftreten. Wenn wir uns als Demokraten bezeichnen, muss uns bewusst sein, dass weder die Französische Revolution noch die Revolutionswelle von 1848/49 noch die Ausrufung der (deutschen) Republik am Ende des Ersten Weltkriegs ohne Gewalt vonstatten ging. Das waren keine friedlichen Demos, da gab es Rabatz, Menschen kamen zu Tode und Eigentum wurde zerstört. Aber: Am Ende stand (zumindest bei den Revolutionen) ein politisches Programm, das die Gewalt beendet hat. Und ich persönlich halte revolutionäre Gewalt genau aus diesem Grund für legitim: Sie schafft in einer bestimmten historischen Situation eine Art „Quantensprung“, verändert auf einen Schlag Machtverhältnisse und ermöglicht so längerfristigen (friedlichen) Fortschritt. Und für genau so legitim erachte ich es auch, die Demokratie mit Gewalt zu verteidigen. Wenn es denn mal so weit ist, dass sie mit Gewalt verteidigt werden muss (wie im spanischen Bürgerkrieg). Aber tut mir leid: vor der Tübinger Hermann-Heppner-Mehrzweckhalle die Demokratie zu verteidigen, indem man eine Diskussion unterbindet, ist lächerlich. Damit erreicht man nur, dass sich Leute verschreckt von den Zielen derer abwenden, die da geschrien haben. Und das war es schlicht nicht wert.

Jubelnde Revolutionäre nach Barrikadenkämpfen am 18. März 1848 in Berlin – ein Beispiel für Momente der Gewalt in der Geschichte, die dazu führen, dass eine überalterte Ordnung kippt und etwas dauerhaft Neues entstehen kann (was damals jedoch nicht gelang). (Photo Credits: Wikimedia)