Privater Blog

Autor: admin

Sendungsbewusste Arschlöcher

In diesem Text betrachte ich einige „Säulenheilige“ meiner kulturellen Sozialisierung – und erschrecke. In deren früher bewunderten Haltung sehe ich jetzt einen Gestus des Unbedingten. Und der ist gar nicht gut gealtert. Ein später kulturkritik-kritischer Stoßseufzer.

Der einsame Rufer (KI-Bild).

Eine zeitlang mochte ich Marcel Reich-Ranicki. In den 1990er Jahren war ich damit nicht alleine. Viele Menschen, auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis, genossen es, wie er mit unmissverständlichen Aussagen, ja sogar mit respektloser Lust am Verriss Hochliteratur beurteilte (“Dieses Buch ist einfach ein schlechtes Buch”). Das hob sich wohltuend ab vom bildungsbürgerlichen Larifari der damaligen Zeit, das zwischen spätmoderner Erstarrung und postmoderner Beliebigkeit flimmerte. Tacheles war da wenig.  

Eine klare Meinung zu haben und sie auszusprechen, “streitbar” zu sein, das galt ja auch im linken Kulturkreis als positive Eigenschaft. Lange bevor sie als „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ von den Schwurblern und Populisten gekapert wurde. Mit seiner intellektuellen Rauflust mischte Reich-Ranicki den Kulturbetrieb auf, machte Literatur aber auch (wieder) populär. Sein Furor gegen langweilig gewordene Dichterfürsten wie Günter Grass und Martin Walser hatte nicht nur etwas Unterhaltsames. In dieser Story war Ranicki sogar der Underdog, der sich im Proll-TV-Studio offen mit dem feinen Literaturbetrieb der Verlags-Hinterzimmer anlegte – und oft gewann. 

Selbstherrlichkeit als Antrieb

Dieses Befreiende hatte aber auch Schattenseiten. Und die fallen aus heutiger Perspektive recht dunkel aus. Schaut man sich auf Youtube an, wie Ranicki seine Kollegin Sigrid Löffler runterputzt, dann ist das dicht an der Grenze zur Frauenfeindlichkeit bzw. eigentlich darüber hinaus (https://www.youtube.com/watch?v=g_PqRnM-9G0 ab min. 5:30). Und auch die Art und Weise, wie er viel später dann den “Deutschen Fernsehpreis” ablehnte (obwohl er doch ein halbes Leben lang auf der Welle der TV-Star-Popularität geritten war) zeigt Ranickis wahres Gesicht: Selbstherrlichkeit (https://www.youtube.com/watch?v=dc1v_-qC6k4). Heute im Rückblick wird mir klar: Einer wie Ranicki war nicht wirklich streitbar. Das wäre er gewesen, wenn er Gegenmeinungen hätte gelten lassen. Oft wollte er sie sich noch nicht mal anhören. 

“Kleines Arschloch” aus der K.u.K.-Zeit

Vor kurzem habe ich eine Biographie über Karl Kraus (an)gelesen. Das war auch so ein Säulenheiliger meiner (linksliberalen) kulturellen Sozialisierung. Angestiftet damals von den genialen Katalogtexten des “Zweitausendeins”-Verlags hatte ich mir in den frühen 1980er Jahren sogar eine Gesamtausgabe der “Fackel” gekauft und in mein Jugendzimmer gestellt. In der Biographie von Jens Malte Fischer (Obacht: über 1000 Seiten einschläfernder Nominalstil) begegnete mir nun aber eine Art “kleines Arschloch” der K.u.K.-Monarchie. Ohne verspielte Kindheit, ohne irgendwelche Entwicklungen oder Irrungen der Pubertät tritt Karl Kraus sofort auf in der hell schimmernden Rüstung des empörten Kritikers. Sein Endgegner: die Gschaftlhuberei des politisch und kulturell irgendwie behäbigen und korrupten Wien des späten 19. Jahrhunderts. Kraus schien aber in seinem Furor gar nicht zu merken, dass er dieses Feuer mit Benzin löschen wollte; nämlich indem er einfach das eigene Netzwerk von Künstlern und Bohèmiens dagegensetzte. Was die Frage stellt: Ist da einer wirklich empört über die Machenschaften, die er entdeckt? Oder beleidigt, weil er in ihnen keine Rolle spielt? Jedenfalls kann Kraus selbst auch mächtig gschaftlhubern – zumindest für sich und für die Leute, die er selbst gut findet (Frank Wedekind zum Beispiel). 

Diese Egomanie wirkt umso unsympathischer, je mehr sie auch Kraus als Menschen ausgemacht zu haben scheint. In diesem Fall muss man dem weitschweifigen Biographen fast dankbar sein für die vielen gut recherchierten aber irgendwie erschreckenden Details zu Kraus’ Privatleben. Ich habe wirklich nichts einzuwenden gegen Libertinage und Erotomanie, aber einen solchen Verschleiß von (teils minderjährigen) Geliebten wie bei Kraus muss einer erstmal mit dem täglichen Schreibjob in Einklang bringen. Und mit “Verschleiß” meine ich tatsächlich Frauen, die am Ende seinetwegen in der Nervenheilanstalt gelandet sind. 

Kaffeehaus-Bohèmien und Grantler-Widerling

Einer der Kraus-Freunde war Peter Altenberg. Weil er vor allem im Kaffeehaus kreativ sein konnte, saß er auch permanent dort und schrieb. Im Café Central gibt es eine lebensgroße Statue von Altenberg an einem der Tische sitzend. Kürzlich erwarb ich eine Art “Best-of”-Ausgabe von Altenberg, gesammelte Essays und Aphorismen unter dem Titel “Neues Altes”. Ich wollte endlich mal aus erster Hand die vielbeschworene Eleganz und stilvolle Ironie des Kaffeehaus-Literaten genießen. Das war ein eher kurzes Vergnügen. Ich erschrak auch hier. Da ist erstmal jede Menge Misogynie (gipfelnd in einem Essay mit dem Titel “Ehebruch”). Und dann geht es immer um “die Menscheit” oder deren “Seele” – eine unglaubliche Anhäufung von Allgemeinsubstantiven, die dann auf billige Weise lächerlich gemacht werden. Kostprobe gefällig? Einer dieser typischen Altenberg-Grantler-Sätze: 

“Das Leben ist eine feige Lächerlichkeit, mit frechen Ambitionen, und es gehören alle Verlogenheiten der menschlichen Seele und des menschlichen Geistes dazu, um es auch nur eine Minute lang ernst zu nehmen!”

Blutleer und hohl

Jaja, klingt beim ersten Lesen irgendwie kritisch und unangepasst – ein Sound, der damals auch das Publikum fasziniert haben mag. Aber aus dem Gestus der Empörung resultiert am Ende – gar nichts. Da hat jemand ein paar Pappkameraden abgeschossen, die er zuvor aufgestellt hat. Und genauso blutleer scheint der Satiriker auch als Mensch gewesen zu sein. Seine Unfähigkeit zu jeglicher bürgerlichen Form von Arbeit ließ er sich sogar ärztlich attestieren (ein vielsagender Vorgang, finde ich). Als ein liebeskranker Jüngling ihm sein Herz ausschüttete, riet Altenberg ihm kurzerhand zum Selbstmord. Der dann auch erfolgte.

Jetzt mal im Ernst: Wofür sollen diese sendungsbewussten Gestalten ein Vorbild sein? Für Stil? Für Streitbarkeit? Sich mit Dichterfürsten anlegen und dann eine Kollegin niedermachen? Den Wiener Klüngel kritisieren und dann Minderjährige vögeln? Über „das Leben“ granteln und dann einen jungen Mann in den Selbstmord treiben? Zugegeben, alles biographische Momentaufnahmen, beliebig von mir herausgepickt. Natürlich hat jede Person das Recht auf biographische Brüche und Inkonsistenzen. Aber dann müssen sie sich auch in der Haltung wiederfinden. Dann muss es mehr geben als das Ich. Zum Beispiel den Kampf mit sich und den Umständen, den Zweifel an vorgefundenen Selbstverständlichkeiten, die Suche nach neuen Wegen, das Hadern mit der Zuverlässigkeit des eigenen Kompass. Sonst bleibt nur blinde Selbstherrlichkeit.

Wo ist das Projekt?

Diesen Gestus des Absoluten, dieses Unbedingte, mit dem letztlich eigene Machtinteressen unter der Signatur der “Streitbarkeit” durchgesetzt werden, die gibt es heute immer noch und immer wieder. In vielen verschiedenen Spielarten an allen Enden des politischen Spektrums. Wir sollten uns, glaube ich, öfter mal fragen, welche ethische Grundhaltung hinter dieser Überzeugungskraft und Verve steckt. Und ob das Sendungsbewusstsein der Sprecher:innen tatsächlich von irgendeinem Bemühen um etwas jenseits ihrer selbst getrieben ist. 




Farbe bekennen?

In diesem Beitrag erlebt Herr Neemann Dinge als vermeintlicher „Fan“ und macht sich Gedanken, was das bedeutet.

Osterhasen im Neckarstadion

Vor einigen Monaten habe ich mir spontan einen Fan-Schal gekauft. Es war ein rot-weiß-gestreifter mit einer eingestickten Jahreszahl 1893 – dem Gründungsdatum des VfB Stuttgart. Eigentlich bin ich kein Fußballfan. Ich bin immer eher sporadisch ins Stadion gegangen (ich sage immer noch Neckarstadion dazu) wenn ich mal Lust hatte, guten Live-Fußball zu sehen. Wer sich ein wenig in der Bundesliga-Historie der letzten Jahre auskennt, der weiß, dass es meist von der Gastmannschaft abhing, ob da guter Fußball gespielt wurde. Aber seit dieser Saison spielt der VfB wirklich überragenden Fußball, zeigt Nervenstärke, technische Finesse, gute Spielzüge. Nach dem Heimsieg gegen Dortmund im letzten November war es für mich an der Zeit, das mit einem Schal zu honorieren. Ein klassischer VfB-Fan bin und werde ich auf diese Weise nicht, aber der Verein ist nun mal der Club meiner Region und meiner Jugend (als ich aufs Gymnasium kam, stieg der Verein in die 1. Liga auf und setzte sich dort fest). Also geht das mit dem Schal grundsätzlich für mich in Ordnung.

Vor einer Woche war ich dann wieder im Stadion – verabredet mit meinem Schwager, der die Dauerkarten eines Bekannten während dessen Urlaub überlassen bekommen hatte. Es ging gegen Heidenheim, ein Schwaben-Derby also. Ich war etwas früher am Stadion und wollte zu unserem Treffpunkt, dem Vereinsheim des PSV laufen. Übrigens für alle, die mit dem Gedanken spielen, ein Spiel im Neckarstadion anzuschauen: Die Stadionwurst dort ist unterirdisch, schlicht nicht essbar. Eine Stadionwurst muss man also außerhalb essen, in unserem Fall auf dem Gelände des „Polizeisport-Vereins“, das direkt neben dem Stadion liegt. Letzte Woche war nur leider der Durchgangs-Fußweg dorthin wegen Bauarbeiten gesperrt. Ich musste also auf der anderen Seite ums ganze Stadion herumlaufen. Das wäre mir auch beinahe gelungen, bis ich an einer Polizeisperre angehalten und mir bedeutet wurde, ich dürfe hier nicht weiter. Auf die Frage, wieso denn, deutete die Polizistin auf meinen Schal und meinte, das sei hier der Durchgang für die Heidenheim-Fans zu ihrem Gäste-Block. Stuttgart-Fans seien hier aus Sicherheitsgründen nicht zugelassen. 

“Du kommsch hier ned durch“

Das hat man nun davon, war mein erster Gedanke. Das Erlebnis ging dann ohne weiteren Schrecken an mir vorüber. Ich habe meinen Schwager noch getroffen, wir haben ein ziemlich gutes und spannendes Spiel gesehen, und als der VfB in der 98. Minute doch noch den hochverdienten Ausgleich zum 3:3 geschafft hat, bin auch ich vom Sitz aufgesprungen, habe jubelnd geschrieen und meinen Schwager und weitere wildfremde Menschen umarmt und geherzt. Nur auf eine Stadionwurst musste ich verzichten. 

Wieso schreibe ich das eigentlich hier? Weil ich das Erlebnis seither nicht vergessen konnte. Der Fan-Schal hat mich ent-individualisiert. Als ich dort vor der Polizei stand, war ich nicht der Bürger Dr. Andreas Neemann, ich wurde zu einem Repräsentanten der Großgruppe „Fußballfans“ mit der Untereinheit „VfB-Fan“ und in den Konzepten eines Oberpolizeidirektors war ich damit grundsätzlich in der Lage, eintreffende Heidenheim-Fans auf ihrem Weg zum Gästeblock mal tüchtig zu verdreschen. Oder ein armes Opfer, das davor zu schützen ist, vor übergriffigen Heidenheim-Fans versammelt zu werden. Selbst entscheiden konnte ich jedenfalls nicht mehr. 

AN mit Fan-Schal
Zum ersten Mal mit Fan-Schal unterwegs – und gleich gibt‘s Stress.

Das dämliche Einsortieren in Großgruppen

Dieses Denken (und Einsortieren) in Großgruppen findet nicht nur vor Sportveranstaltungen statt. Es durchdringt gerade die Gesellschaft – so jedenfalls mein Eindruck. Und das auf eine ziemlich wundersame Weise. Die klassischen Großgruppen (sozial, gewerkschaftlich, politisch, konfessionell) hatten es gerade geschafft, in Zeiten des Pluralismus ihre Interessen auszugleichen und miteinander in Einklang zu bringen, da tauchen neue Gruppierungen auf – Impfgegner, Systemgegner, LGBTQ- oder Klimaaktivisten. Und alle tun sich groteskerweise dadurch hervor, dass sie einen Dialog mit den jeweils „gegnerischen“ Gruppen ablehnen – aus den unterschiedlichsten Gründen. Den einen ist die Zeit bis zum Weltuntergang zu kurz für lange Debatten, die anderen sehen sich in einer Meinungs-Diktatur gefangen, in der „die Wahrheit“ ohnehin unterdrückt wird, wieder andere sehen die jeweils andere Seite in Sachen Bildung erst als satisfaktionsfähig für eine Diskussion an, wenn die das Hauptwerk von Bourdieu intus haben. Und wir fangen so langsam aber sicher an, diese neuen Gruppengrenzen zu akzeptieren. Wer also die naive Frage stellt, wie das mit der Zuwanderung nach Asylparagraph langfristig weitergehen soll, wenn eine europäische Regelung nicht gefunden werden kann und die ohnehin schlappen Sozialsysteme der BRD über Gebühr strapaziert werden, gibt sich als AfD-nah zu erkennen. Und steht quasi mit Fan-Schal an der Polizeischranke und wird entsprechend behandelt. Wer der Meinung ist, dass Sprache eine erhebliche Wirkung auf die Realität hat und sich auch in seinem privaten Umgang ums Gendern bemüht, wird entsprechend belächelt und für akademisch abgehoben gehalten. Wer (auch ohne dicken Geldbeutel) der Meinung ist, dass zumindest teilweise elektrische Mobilität ein Vorteil ist und sich ein Hybridfahrzeug anschafft und aus nämlichen Gründen auch die Investition in eine Wärmepumpe grundsätzlich befürwortet, muss damit rechnen, als Angehöriger der neuen linksgrünen Oberschicht angefremdelt zu werden. Und ich muss gestehen: Ich selbst neige leider auch dazu. Vor ziemlich genau zwei Jahren hatte ich einen ganz wunderbaren Abend mit einer höchst interessanten, liebenswürdigen und auch intellektuell fesselnden Person, die sich im Nachgang als überzeugte Impfgegnerin entpuppte. Hätte ich das vorher gewusst, hätte es kein Treffen gegeben. 

Wie wär‘s mit Zuhören?

Fan-Schals, wohin das Auge reicht. Und die meisten hat man sich noch nicht mal selbst angeschafft und umgehängt. Mit dieser Art von „Farbe bekennen“ werden wir nicht weiter kommen. Große gesellschaftliche Probleme werden wir nur lösen, wenn wir ein paar Grundwerte der guten alten Aufklärung ernst nehmen – und die beginnen mit dem Zuhören. Neugierige Fragen müssen gestellt (und beantwortet) werden, soziale Praktiken dürfen nicht diffamiert werden. Persönliche Überzeugungen sollten toleriert werden – zumindest solange sie niemandem schaden. Und wem die Stadionwurst in der „MHP-Arena“ schmeckt, der soll sie bitteschön auch gerne essen. 

Der ‚Hack‘ als Chance

Seit 2006 habe ich eine private Domain, auf der ich Blog-Beiträge veröffentliche. Viel war es bislang nicht, am Ende etwa ein Beitrag alle sechs Monate. In der Hauptsache war das zu meinem eigenen Vergnügen. Leser gab es nur (und auch dann wenig), wenn ich einmal einen Beitrag über meinen Twitter-Account gepusht habe.

Themen: Wie ich plötzlich Kontakt zu einem Kampot-Pfefferbauern in Vietnam aufbaute (ohne hingegen zu wissen, wo meine Milch oder das Getreide für mein tägliches Müsli herkommt); wie ich die Empörung über die Fake-Reportagen von Claas Relotius für etwas scheinheilig hielt; ob und wie ich mich in einer Autofahrer-Typologie wiederfinden konnte. Persönlichen Kram halt.

Dennoch kamen irgendwann die Hacker. Anfangs nahm ich sie nicht ernst. Was wollten die schon? Ein paar Kommentare mit Links auf irgendwelche unanstößigen Seiten – die konnte ich bequem über das Admin-Tool löschen. Am Ende war dennoch die Seite gekapert und das Admin-Passwort weg. Irgendwo noch der klägliche Versuch, für die Seite einen Bitcoin als Lösegeld zu erpressen.

Also gab ich die vorhandenen Beiträge getrost den Hasen und nutze das Elend für einen Neuanfang. Immerhin ist für jemanden, der beruflich schreibt, auch ein privater Blog, und zwar einer mit aktuellen Themen, ein Aushängeschild.

Hoffen wir, dass mir auch Inhalte für regelmäßigere Beiträge einfällt.