Vor einigen Monaten habe ich mir spontan einen Fan-Schal gekauft. Es war ein rot-weiß-gestreifter mit einer eingestickten Jahreszahl 1893 – dem Gründungsdatum des VfB Stuttgart. Eigentlich bin ich kein Fußballfan. Ich bin immer eher sporadisch ins Stadion gegangen (ich sage immer noch Neckarstadion dazu) wenn ich mal Lust hatte, guten Live-Fußball zu sehen. Wer sich ein wenig in der Bundesliga-Historie der letzten Jahre auskennt, der weiß, dass es meist von der Gastmannschaft abhing, ob da guter Fußball gespielt wurde. Aber seit dieser Saison spielt der VfB wirklich überragenden Fußball, zeigt Nervenstärke, technische Finesse, gute Spielzüge. Nach dem Heimsieg gegen Dortmund im letzten November war es für mich an der Zeit, das mit einem Schal zu honorieren. Ein klassischer VfB-Fan bin und werde ich auf diese Weise nicht, aber der Verein ist nun mal der Club meiner Region und meiner Jugend (als ich aufs Gymnasium kam, stieg der Verein in die 1. Liga auf und setzte sich dort fest). Also geht das mit dem Schal grundsätzlich für mich in Ordnung.

Osterhasen im Neckarstadion

Vor einer Woche war ich wieder im Stadion – verabredet mit meinem Schwager, der die Dauerkarten eines Bekannten während dessen Urlaub überlassen bekommen hatte. Es ging gegen Heidenheim, ein Schwaben-Derby also. Ich war etwas früher am Stadion und wollte zu unserem Treffpunkt, dem Vereinsheim des PSV laufen. Übrigens für alle, die mit dem Gedanken spielen, ein Spiel im Neckarstadion anzuschauen: Die Stadionwurst dort ist unterirdisch, schlicht nicht essbar. Eine Stadionwurst muss man also außerhalb essen, in unserem Fall auf dem Gelände des „Polizeisport-Vereins“, das direkt neben dem Stadion liegt. Letzte Woche war nur leider der Durchgangs-Fußweg dorthin wegen Bauarbeiten gesperrt. Ich musste also auf der anderen Seite ums ganze Stadion herumlaufen. Das wäre mir auch beinahe gelungen, bis ich an einer Polizeisperre angehalten und mir bedeutet wurde, ich dürfe hier nicht weiter. Auf die Frage, wieso denn, deutete die Polizistin auf meinen Schal und meinte, das sei hier der Durchgang für die Heidenheim-Fans zu ihrem Gäste-Block. Stuttgart-Fans seien hier aus Sicherheitsgründen nicht zugelassen. 

“Du kommst hier net rein“

Das hat man nun davon, war mein erster Gedanke. Das Erlebnis ging dann ohne weiteren Schrecken an mir vorüber. Ich habe meinen Schwager noch getroffen, wir haben ein ziemlich gutes und spannendes Spiel gesehen, und als der VfB in der 98. Minute doch noch den hochverdienten Ausgleich zum 3:3 geschafft hat, bin auch ich vom Sitz aufgesprungen, habe jubelnd geschrieen und meinen Schwager und weitere wildfremde Menschen umarmt und geherzt. Nur auf eine Stadionwurst musste ich verzichten. 

Wieso schreibe ich das eigentlich hier? Weil ich das Erlebnis seither nicht vergessen konnte. Der Fan-Schal hat mich ent-individualisiert. Als ich dort vor der Polizei stand, war ich nicht der Bürger Dr. Andreas Neemann, ich wurde zu einem Repräsentanten der Großgruppe „Fußballfans“ mit der Untereinheit „VfB-Fan“ und in den Konzepten eines Oberpolizeidirektors war ich damit grundsätzlich in der Lage, eintreffende Heidenheim-Fans auf ihrem Weg zum Gästeblock mal tüchtig zu verdreschen. Oder ein armes Opfer, das davor zu schützen ist, vor übergriffigen Heidenheim-Fans versammelt zu werden. Selbst entscheiden konnte ich jedenfalls nicht mehr. 

AN mit Fan-Schal
Zum ersten Mal mit Fan-Schal unterwegs – und gleich gibt‘s Stress.

Das dämliche Einsortieren in Großgruppen

Dieses Denken (und Einsortieren) in Großgruppen findet nicht nur vor Sportveranstaltungen statt. Es durchdringt gerade die Gesellschaft – so jedenfalls mein Eindruck. Und das auf eine ziemlich wundersame Weise. Die klassischen Großgruppen (sozial, gewerkschaftlich, politisch, konfessionell) hatten es gerade geschafft, in Zeiten des Pluralismus ihre Interessen auszugleichen und miteinander in Einklang zu bringen, da tauchen neue Gruppierungen auf – Impfgegner, Systemgegner, LGBTQ- oder Klimaaktivisten. Und alle tun sich groteskerweise dadurch hervor, dass sie einen Dialog mit den jeweils „gegnerischen“ Gruppen ablehnen – aus den unterschiedlichsten Gründen. Den einen ist die Zeit bis zum Weltuntergang zu kurz für lange Debatten, die anderen sehen sich in einer Meinungs-Diktatur gefangen, in der „die Wahrheit“ ohnehin unterdrückt wird, wieder andere sehen die jeweils andere Seite in Sachen Bildung erst als satisfaktionsfähig für eine Diskussion an, wenn die das Hauptwerk von Bourdieu intus haben. Und wir fangen so langsam aber sicher an, diese neuen Gruppengrenzen zu akzeptieren. Wer also die naive Frage stellt, wie das mit der Zuwanderung nach Asylparagraph langfristig weitergehen soll, wenn eine europäische Regelung nicht gefunden werden kann und die ohnehin schlappen Sozialsysteme der BRD über Gebühr strapaziert werden, gibt sich als AfD-nah zu erkennen. Und steht quasi mit Fan-Schal an der Polizeischranke und wird entsprechend behandelt. Wer der Meinung ist, dass Sprache eine erhebliche Wirkung auf die Realität hat und sich auch in seinem privaten Umgang ums Gendern bemüht, wird entsprechend belächelt und für akademisch abgehoben gehalten. Wer (auch ohne dicken Geldbeutel) der Meinung ist, dass zumindest teilweise elektrische Mobilität ein Vorteil ist und sich ein Hybridfahrzeug anschafft und aus nämlichen Gründen auch die Investition in eine Wärmepumpe grundsätzlich befürwortet, muss damit rechnen, als Angehöriger der neuen linksgrünen Oberschicht angefremdelt zu werden. Und ich muss gestehen: Ich selbst neige leider auch dazu. Vor ziemlich genau zwei Jahren hatte ich einen ganz wunderbaren Abend mit einer höchst interessanten, liebenswürdigen und auch intellektuell fesselnden Person, die sich im Nachgang als überzeugte Impfgegnerin entpuppte. Hätte ich das vorher gewusst, hätte es kein Treffen gegeben. 

Wie wär‘s mit Zuhören?

Fan-Schals, wohin das Auge reicht. Und die meisten hat man sich noch nicht mal selbst angeschafft und umgehängt. Mit dieser Art von „Farbe bekennen“ werden wir nicht weiter kommen. Große gesellschaftliche Probleme werden wir nur lösen, wenn wir ein paar Grundwerte der guten alten Aufklärung ernst nehmen – und die beginnen mit dem Zuhören. Neugierige Fragen müssen gestellt (und beantwortet) werden, soziale Praktiken dürfen nicht diffamiert werden. Persönliche Überzeugungen sollten toleriert werden – zumindest solange sie niemandem schaden. Und wem die Stadionwurst in der „MHP-Arena“ schmeckt, der soll sie bitteschön auch gerne essen.